Strg-Z fürs Leben

Muss das wirklich sein? 10 000 Entscheidungen hat der Mensch jeden Tag zu treffen, sagen Forscher. Jeden Tag! Bei acht Stunden Schlaf sind das in der verbleibenden wachen Zeit mehr als zehn Entschlüsse pro Minute. Aber dabei hört diese Qual ja selbst in der Nacht nicht auf. Sogar im Traum muss man wählen zwischen der Seelenhygiene zuträglichen Selbstanalyse und dem romantischen Davonschweben in paradiesische Welten. Eindeutig: Nicht enden wollende Ströme des Abwägens, Grübelns und Zögerns bestimmen das Leben. Ständig steht man vor der Wahl, kann tun und lassen, was man will – ob man will oder nicht. Und im Nacken sitzt immer die Angst vor der falschen Entscheidung. Sei es die Pizza im Restaurant, die sich als nicht so schmackhaft herausstellt, wie die des Gegenübers. Die Lebensgefährtin, die sich schließlich als starrköpfig und langweilig entpuppt. Oder das Kreuzchen auf dem Stimmzettel, welches im Nachhinein besser eine Zeile tiefer hätte platziert werden sollen. Unzählige Momente, in denen man die Freiheit verflucht.

Wie schön wäre da nicht ein kleines Hilfsmittel, dessen Gebrauch man durch den Einzug des Computers in unseren Alltag zu schätzen gelernt hat. Ja, ein Leben ohne uns gar nicht mehr vorstellen können. Verschrieben? Verklickt? Versehentlich gelöscht? Kein Problem mit dem „Rückgängig-machen“-Pfeil oder der Tastenkombination „Strg + Z“. Mit ihr lassen sich alle Fehler beheben, jegliche Arbeitsschritte rückgängig machen. Zumindest die der digitalen Art. Anhand dieses wundersamen Zweiklangs lässt sich die Welt auf dem Bildschirm wieder in die Ausgangslage zurückversetzen, in den unberührten Urzustand.

Wie schön wäre es, diesen doppelten Boden auch in unserer analogen Realität zu haben. Teller runtergeschmissen? „Strg + Z.“ Gemeinheit rausgerutscht? „Strg + Z.“ Rote Ampel übersehen? „Strg + Z.“ Ach, wenn es nur so einfach wäre. VW könnte den kompletten Katalog diesen ganzen Abgas-Skandal rückgängig machen. Kanzlerin Merkel eine Legislatur politischen Stillstand wegradieren und mit einem anderen Koalitionspartner von vorne anfangen. Und der Rest der Welt könnte sich montagmorgens bis zum Freitagabend zurückklicken. Oder bis zum letzten richtigen Sommer. Oder bis zur ersten Liebe. Bis zum ersten Kuss. Bis zum ersten Schultag. Oder gleich zurück an Mamas Brust.

Und während man sich träumend rückwärts durch die Geschichte klickt, kommt ein Gedanke an Max Frisch unsanft in die Quere. Jener Schweizer Grübler hat in seinem Theaterstück „Biografie: Ein Spiel“ dies schon alles durchgedacht und ist zu einer desillusionierenden Erkenntnis gekommen. Trotz der großartigen Chance, seine Geschichte neu zu schreiben, trifft der todkranke Protagonist alle wichtigen Entscheidungen genauso noch einmal. Er ist nicht einmal in der Lage, seine zerrüttete Ehe abzuwenden oder einen schweren Unfall rückgängig zu machen. Autor Frisch erklärt das folgendermaßen: „Keine Szene passt ihm so, dass sie nicht auch anders sein könnte. Nur er kann nicht anders.“ Das ist dann doch irgendwie beruhigend.

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